Inmitten hübsch gepflegter niederösterreichischer Landschaft steht im Reich des Ötschers eine kleine unscheinbare Kapelle. Und gut geschützt hinter Gitterstäben ist hier ein auf den ersten Blick gar seltsam anmutendes Heiligenbild zu sehen. Für den Betrachter, der das umfangreiche Lexikon der Heiligen noch nicht zu seiner Bettlektüre zählt, vermutlich auch auf den zweiten Blick. Das Gemälde zeigt einen Mann mit Bart ans Kreuz genagelt. Soweit, so bekannt.
Doch halt! Der Mann trägt ein prunkvolles rosafarbiges Kleid! Und unter der Krone befestigt, umwallt ein gar prächtiger Schleier die schlanke Gestalt. Perlenketten um Hals und am Kleid des Gekreuzigten zeigen einigen Reichtum. Und die schmale Taille lässt vielleicht sogar ein Korsett unter den exquisiten Stoffen vermuten. Der Geigenspieler zu Füßen des Mannes in Frauengewändern sieht zu ihm auf, voller Ehrfurcht.
Was sehen wir hier? Einen zu Unrecht weithin vergessenen frühen Vorfahren unser aller Conchita?
Mitnichten! Bei dem bärtigen Mann in Frauenkleidung handelt es sich in Wahrheit um eine Frau, die Heilige Kümmernis, auch Wilgefortis genannt, eine Volksheilige, deren Legende ab dem Mittelalter von Generation zu Generation weitergetragen wurde.
Und das ist ihre merkwürdige Geschichte:
Die Tochter eines heidnischen portugiesischen Königs konvertierte vom Vater unbemerkt zum Christentum und gelobte, so jungfräulich zu bleiben wie die Gottesmutter Maria. Als ihr Vater Wilgefortis – so war ihr Name (vermutlich abgeleitet aus dem Lateinischen: virgo fortis – starke Jungfrau) – sie gegen ihren Willen verheiraten wollte, begehrte sie gegen die erzwungene Heirat auf. Sie betete zu Gott er möge sie verunstalten, damit sie der Heirat mit dem ungläubigen Heiden entgehen könne.
Und es geschah: Gott erhörte das bitterliche Flehen der jungen Frau. Ganz nach seinem Bildnis wuchs Wilgefortis ein hübscher, dichter, wallender Bart. Der damit konfrontierte Vater war ob dieser unverhergesehenen Entwicklung der Lage aber nicht sonderlich amüsiert und ließ die Jungfrau daraufhin ’nach Art ihres gekreuzigten Gottes‘ ebenfalls durch Kreuzigung hinrichten. Vom Kreuz herab soll die standhafte junge Dame allerdings noch drei Tage lang tausende Heiden zum Christentum bekehrt haben, auch ihren Vater. Was diesen jedoch offenbar dennoch nicht dazu veranlassen konnte, ihr den grausigen Tod am Kreuz zu ersparen.
Nun ja, eine herzzerreißende Geschichte. Aber sie ist noch nicht zu Ende. Wir haben ja noch den Spielmann, der zu Füßen der Gekreuzigten so hingebungsvoll auf seiner Geige musiziert.
Denn im Laufe der Jahrhunderte wurde die ursprüngliche Geschichte von Wilgefortis noch durch weitere Legenden und Berichte von unerklärlichen Wundern angereichert. Dazu zählt auch die Geschichte des Geigers.
Vor dem Bild der Heiligen Kümmernis geigte einst ein in Not geratener Spielmann und bat um ihre Hilfe. Und das Wunder geschah: die Heilige entlohnte den Burschen mit einem herabgeworfenen kostbaren Schuh. Der daraufhin des Diebstahls angeklagte Geiger bewies seine Unschuld, indem er erneut vor dem Bilde aufspielte und seine Not klagte. Vor den Augen aller Ungläubigen warf ihm die Heilige auch den zweiten goldenen Schuh in die Arme.
Die Legende beruht übrigens vermutlich auf einer Missdeutung bekleideter Kruzifixbilder vom Typus des Volto Santo von Lucca. Der Gekreuzigte, dargestellt im wallenden Kleid statt gerafftem Lendenschurz, wurde offenbar trotz männlicher Kennzeichnung durch einen Bart als Frau missverstanden.
Der Legende von Wilgefortis nahmen sich schließlich auch die Gebrüder Grimm an.
Im zweiten Teil der Erstauflage der Hausmärchen aus dem Jahr 1815 findet sich das Märchen Die heilige Frau Kummernis.
Und so endet das Märchen bei den Brüdern Grimm:
Also wurde der Geiger der Eisen und Bande ledig, zog vergnügt seiner Straßen, die heilige Jungfrau aber hieß Kümmernis.
Falls Sie nun Lust bekommen haben sollten sich die Kapelle näher anzusehen:
Fotos: Kurt Tutschek