Das blutige Ende eines Liebesabenteuers. — Das Opfer ein Amerikaner
Kleeblattgasse. Winkelige Gassen, schlecht beleuchtet und schlecht beleumundet.
Mit Unrecht. Denn die Polizei, die über unsere guten Sitten wacht, hat ja vor geraumer Zeit die Freudenhäuser in der Innern Stadt evakuiert… Dort in einem der verlassenen Freudenhäuser fand die Rettungsgesellschaft gestern nacht einen schwerverletzten Amerikaner. Mister Rudolf Kempe, Sekretär einer Tabakfabrik in Havanna. Der Arzt stellte einen Schädelgrundbruch fest und ließ Mister Kempe rasch ins Spital bringen.
Dort ringt er mit dem Tode.
Das verkannte Freudenhaus.
Wie Mister Kempe in die Kleeblattgasse gekommen ist? Wahrscheinlich hat er noch von einem früheren Aufenthalt her die Adresse aufbewahrt. Als er nun nach seiner Karlsbader Kur im Wiener BristoI gelandet war, führte ihn sein erster Spaziergang in die Kleeblattgasse. Er wußte nicht, daß die Polizei indessen das ganze Viertel geräumt hatte, und diesem Umstand verdankt er in einem gewissen Sinn sein Unglück…
Er kam in die Kleeblattgasse und sprach ein junges Mädchen an. Im Gasthaus Koch wurde die Bekanntschaft begossen. Sie trank einige Seidel, er einige Krügel Bier. Ein Grammophon spielte dazu — für zehn Groschen — die ältesten und neuesten Schlager. Bis das Mädchen, die 23jährige Agnes Kokesch, genug hatte und sich verabschiedete. Aber damit hatte wieder Mister Kempe gar nicht gerechnet. In der Kleeblattgasse war man früher nicht so spröd…
So folgte er ihr bis zum Haustor Kleeblattgasse 5 und dann durchs Stiegenhaus über die Wendeltreppe bis zur Wohnungstür der Agnes Kokesch. Was nun weiter geschah, das ist vorläufig noch recht unbekannt. Die Agnes hat die Ereignisse bei der Polizei folgendermaßen dargestellt:
Der gefährliche Stoß.
„Ich wollte“, erzählte sie bei der Polizei, „ruhig in meine Wohnung gehen, aber der Fremde, den ich ja erst im Gasthaus kennengelernt habe, wollte mit Gewalt bei mir eindringen. Schließlich wußte ich mir keinen Rat mehr mit ihm und da gab ich ihm einen Stoß…“
Mister Kempe, der ohnedies nicht mehr allzu sicher auf seinen Füßen stand, verlor das Gleichgewicht und kollerte über die ganze Treppe hinunter. Die Kokesch aber zog sich — wie sie sagt, aus Angst vor den Folgen ihrer Tat — in ihre Wohnung zurück. Sie ließ den Verletzten einfach liegen!
Die Sperrstunde kam im Gasthaus Koch. Da rief der Gastwirt den patrouillierenden Wachmann an: Im Stiegenhaus sei ein Schwerverletzter aufgefunden worden. Rasch kam die Rettungsgesellschaft. Rasch griff die Polizei ein. Zwei Dinge fanden sich im Treppenhaus noch: ein Wurstel, den der Amerikaner im Gasthaus gekauft hatte, und eine Korrespondenzkarte, die an die Agnes Kokesch gerichtet war. Eine Stunde später war die Kokesch bereits in Haft.
Das „Geheimnis“ der Kleeblattgasse hat sich rasch aufgeklärt: Acht Seidel Bier, Sturz über achtzehn zweifelhafte Stufen… Mister Kempe hat sein letztes Liebesabenteuer teurer als irgendeines bezahlt.
Wahrscheinlich mit dem Leben…
Haus Kleeblattgasse 5.
Die Kleeblattgasse ist eines der engsten und winckeligsten Gäßchen des ersten Bezirkes. Sie bildet einen rechten Winkel. Alte Häuser stehen dort, düster und armselig.
Früher war die Kleeblattgasse eine der Stätten des polizeilich reglementierten Lasters. Geschminkte Mädel gingen auf und ab und führten ihre ,Kunden“ in das Haus Nr. 5. Seit geraumer Zeit ist dort die „Sittlichkeit“ eingezogen; die Mädels sind fort um sich auf einem anderen Strich anzubieten und die Nächte der Kleeblattgasse sind einsam geworden…
Aber das kann ein Ausländer, der den Fremdenverkehr hebt, nicht wissen. Er suchte das Laster und fand eine Tugend, die auch durch einige Seidel Bier nicht zu erschüttern war. Und statt auf weichem Pfühl, endete das Abenteuer auf hartem, abgetretenem Granit…
Das Kleine Blatt | 1. September 1929
Die einstmals verruchte Adresse Kleeblattgasse Nr. 5