Langsam begann sie, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Das Zahnfleisch blutete, ihre Zähne wurden immer lockerer und fielen schließlich aus. Scheinbar ohne ersichtlichen Grund. Als sich schließlich auch die Kieferknochen schmerzhaft entzündeten, ging Grace Fryer zum Arzt.
In jenem Jahr 1922 steckte die Röntgendiagnostik noch in den Kinderschuhen, aber der Arzt erkannte sofort die degenerativen Veränderungen an Graces Kiefer. Extremer Knochenabbau hatte bereits zu einer Ansammlung von winzigen Löchern im Knochenmaterial geführt. Doch auch er war ratlos, woher die rapide Zerstörung des Knochens stammen mochte.
So suchte Grace noch weitere Ärzte auf, und schließlich wurde ein roter Faden offensichtlich, der sich durch ähnliche Krankheitsfälle junger Frauen in der Gegend zog: Sie alle hatten in einer Uhrenfabrik gearbeitet.
Auch Grace war längere Zeit hindurch in der Fabrik beschäftigt gewesen. Sie hatte gemeinsam mit anderen Frauen Zifferblätter mit neuartiger, spezieller Leuchtfarbe bemalt, die in der Dunkelheit strahlte, sodass man die Zeit auch in der Nacht bequem ablesen konnte.
Dabei formte sie die Pinselspitze immer wieder mit ihren Lippen, sodass sie ganz dünn endete und dadurch feine Linien auf das Zifferblatt aufgetragen werden konnten. Die Leuchtfarbe, die Grace dadurch unweigerlich in den Körper aufnahm, war unter dem Markennamen ‘Undark’ auf den Markt gebracht worden und versprach, auch bei schlechten Lichtverhältnissen Helligkeit auf die Handgelenke der Uhrenträger zu bringen. Das war auch tatsächlich der Fall. Leider ahnte damals noch niemand, wie gefährlich der tägliche Umgang mit der Farbe sein könnte, denn sie Bestand zu einem Großteil aus Radium.
Der Boom der Uhren mit Leuchtziffern begann im 1. Weltkrieg. In den dunklen Schützengräben boten die mit Leuchtfarbe versehenen Zeiger und Ziffern den Soldaten den Vorteil, dass sie auch nachts die Uhrzeit problemlos ablesen konnten ohne zusätzlich weitere verräterische Lichtquellen verwenden zu müssen.
Nach dem Ende des Krieges wollten daher auch viele Zeitgenossen, die nicht durch das Militär einen derart schicken Zeitmesser erhalten hatten, eine derartige Uhr besitzen.
Und hier kommt die U.S. Radium Corporation ins Spiel, die schon zu Kriegszeiten für leuchtende Zifferblätter gesorgt hatte. Die Firma erkannte sofort das Potenzial dieser Uhren und stellte viele junge Mädchen ein, die für den Erfolg des Produkts sorgen sollten. Zwischen 1917 und 1926 beschäftigte die U.S. Radium Corporation etwa 4000 Frauen, die Zifferblätter mit ‘Undark’ bemalten und für 1,5 Cent pro Zifferblatt (heute etwa 17 Cent) mit ihrer Gesundheit bezahlten.
Am 21. Dezember 1898 hatten Marie und Pierre Curie das radioaktive Element Radium entdeckt. Die gesundheitlichen Schäden, die die radioaktive Strahlung anrichten konnte, waren allerdings längere Zeit völlig unbekannt und Verbindungen, in denen Radium vorkam galten jahrelang als vollkommen harmlos oder sogar als gesundheitsfördernd.
Radium wurde vielfach Medikamenten zugesetzt – z.B. in der Krebstherapie, aber auch im Alltag wurde Radium in vielfacher Form als Allheilmittel gehandelt.
Radium verbesserte das Trinkwasser
Radium war Bestandteil effektiver Mundhygiene
Radium durfte auch in Schokolade nicht fehlen
Wohl am originellsten: mit Radium angereicherte Kondome
Erst in den 1920er-Jahren erkannte man langsam die fatalen Auswirkungen von radioaktiven Materialien auf den menschlichen Körper und auch U.S. Radium konnte die Zustände in ihren Fabriken nicht länger geheimhalten.
Cecil Drinker, ein Physiologe der Universität Harvard wurde von U.S. Radium beauftragt eine Bericht über die Arbeitsbedingungen der Frauen in den Uhrenfabriken zu verfassen. Doch die Erkenntnisse Drinkers dürften wohl kaum zur Zufriedenheit von U.S. Radium ausgefallen sein.
Er schreibt unter anderem:
Dust samples collected in the workroom from various locations and from chairs not used by the workers were all luminous in the dark room. Their hair, faces, hands, arms, necks, the dresses, the underclothes, even the corsets of the dial painters were luminous. One of the girls showed luminous spots on her legs and thighs. The back of another was luminous almost to the waist…
Drinkers Vorschläge, wie die Arbeitsbedingungen verbessert werden könnten, damit die Mädchen künftig nicht mehr dieser hohen Dosis an radioaktiver Strahlung ausgesetzt werden müssten, wurden allerdings wohlweislich ignoriert, sodass sich an den Zuständen in den Fabriken nur wenig änderte. Im Jahr 1925 jedoch fand Cecil Drinker heraus, dass sein Bericht nicht nur unterdrückt, sondern sogar neu geschrieben und geschönt worden war, keine Silbe mehr über die gesundheitsgefährdenden Bedingungen unter denen die jungen Frauen arbeiten mussten. Drinker war nicht sehr amüsiert und brachte endlich die Tatsachen an die Öffentlichkeit.
Und auch Grace Fryer brachte nun den Mut auf, gegen ihre ehemalige Firma vorzugehen. Sie fand vier weitere Frauen aus New Jersey, die sich ihr anschlossen und verklagte ihren Arbeitgeber.
Diese vier jungen Damen, die ebenfalls den Schritt in die Öffentlichkeit wagten, hießen Katherine Schaub, Edna Hussman, Quinta McDonald und Albina Larice.
Der Prozess der ‘Radium Girls’ ging als Präzedenzfall für alle Arbeiterinnen und Arbeiter, die durch ihre Arbeitsbedingungen erkranken und ihren Arbeitgeber verklagen, in die Justizgeschichte ein.
Ein langer Weg, den die fünf mutigen jungen Frauen beschritten.
Der Prozess endete im Frühjahr 1928 mit einem Vergleich. Jedes der Radium Girls erhielt 10.000 US-$ (entspricht heute etwa 123.000 €), dazu kam eine lebenslange jährliche Rente von 600 $, sowie alle Ausgaben für Ärzte und Anwälte.
Durch den mutigen Schritt, den Grace Fryer und die anderen jungen Frauen gewagt hatten, wurden die Sicherheitsstandards in der Industrie nach dem Prozess erheblich verbessert. Durch die Einführung von Arbeitsschutzmaßnahmen (Gummihandschuhe, Haarnetze, Verbot des Pinselanspitzens mit den Lippen) verbesserte sich die Lage der Arbeiterinnen drastisch. Offiziell kam es bei keiner der nach 1927 angestellten Arbeiterinnen zu einem körperlichen Schaden durch radioaktive Strahlung.
Grace Fryer starb an den Auswirkungen ihrer Strahlenerkrankung am 27. Oktober 1933 im Alter von 34 Jahren.
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