Die Insel der Puppen

_MG_5044.jpgJulián Santana Barrera fand das tote Mädchen an einem Tag im Jahr 1951. Es lag am Ufer eines der Kanäle, die rund um die winzige Insel fließen. Das Kind lag noch halb im Wasser und mit geöffnetem Haar. Sanfte Wellen umspülten den kleinen leblosen Körper und die Augen des Mädchens starrten leer in den Himmel. Julián geriet in Panik, keine Menschenseele weit und breit, die ihm beistehen konnte. Jede Hilfe kam zu spät, das Mädchen war nicht mehr am Leben. Er konnte nur noch versuchen, den Geist des toten Kindes zu besänftigen.

So beginnt die Geschichte der Puppeninsel – Isla de las Muñecas – am Rande von Mexiko-Stadt. Das Mädchen saß in seinem Kopf fest, ergriff von ihm Besitz und Julián Santana Barrera verließ seine junge Frau und die Familie, lebte fortan auf der Insel, 28 km entfernt von der Stadt, und sah ab nun seine einzige Aufgabe darin, die verlorene Seele des ertrunkenen Mädchens zu retten. Bis zu seinem Tod im Jahr 2001 blieb Julián, ein einfacher Blumenzüchter und Fischer, der einzige Bewohner der kleinen Insel im Naturschutzgebiet Xochimilco. All die Jahrzehnte lebte er hier wie ein Einsiedler, verfolgt vom Geist des Mädchens, der ihm den Schlaf raubte und ihn beinahe in den Wahnsinn trieb.

Eines Tages schwemmte der Kanal eine alte, kaputte Puppe an und Julián hängte sie in einen der Bäume. Vielleicht ließ sich damit der Geist des Mädchens beruhigen, vielleicht würde das kleine Mädchen durch die Puppe endlich ihren Frieden finden. Doch seine Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Die toten Augen der Kleinen erschienen ihm weiter im Traum, Nacht für Nacht, quälten ihn, machten auch seine Tage unerträglich. Was hatte er bloß falsch gemacht? Natürlich! Eine Puppe war zu wenig. Bestimmt. Mehr Puppen, es mussten mehr Puppen an die Bäume und Sträucher gehängt werden, die ganze Insel sollten sie bevölkern. Wenn das tote Mädchen nur genügend Puppen zum Spielen bekäme, dann, ja dann würde es endlich frei sein und seinen letzten Gang ins Jenseits antreten, das Erdendasein hinter sich lassen können.

Und so geschah es. Julián Santana fand weitere Puppen, die die Kanäle rund um die Insel, die den Abfall der großen Stadt mit sich führten, angeschwemmt hatten. Alle band er an Bäumen auf der Insel fest. Über die Jahre entstand ein öffentlicher Puppenfriedhof. An die 1000 weggeworfene Puppen, teilweise augenlos, mit fehlenden Gliedmaßen, auch Köpfe ohne Körper, alle hängte er bis zu seinem Tod in die Bäume, drapierte sie in Sträuchern, nagelte sie an die Wände seiner Hütte.
Die Spielzeugpuppen schwanken seither im Wind, ausgebleicht von der sengenden Sonne, Wind und Wetter ausgesetzt, von Spinnweben überwuchert. Wie lebendig schaukeln sie zwischen den Ästen und erinnern dabei doch gespenstisch an mumifizierte Kleinkinder. Ein alptraumhafter Ort, der aber jedes Jahr tausende Touristen anzieht.

Das tote Mädchen wurde nie gefunden. Es ist wohl davon auszugehen, dass Julián das kleine Kind bloß imaginiert hatte und zeitlebens in seiner eigenen Illusion gefangen blieb.
Der Mann der Puppen, Julián Santana Barrera, starb im Jahr 2001. Er ertrank an derselben Stelle der Insel wie das Mädchen, das er genau 50 Jahre zuvor gesehen zu haben glaubte. Manche meinen er erlag einem Herzinfarkt, andere gehen davon aus, dass er betrunken ins Wasser gefallen war. Vielleicht hat ihn aber letztendlich doch der Geist des kleinen Mädchens zu sich geholt. Wer weiß?

Hier einige Impressionen der Puppeninsel (Fotos verlinken zu den Originalen auf flickr) Ohne Titel

I see dead dolls ...Isla de las muñecas

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Noch viel mehr Fotos in den Alben von Kevin53:
Farbe | Schwarzweiß

Für die ganz Tapferen: Hier ein kleiner Rundgang in bewegten Bildern…

Und für alle, die den nächsten Urlaub noch nicht gebucht und jetzt Lust bekommen haben, die Isla de las Muñecas zu besuchen:
Die Puppeninsel in Google StreetView

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Tom Bu Ehn

    Spätestens nach den Bildern mit dem kleinen Flüchtlingsjungen, der am Strand leblos gefunden wurde, sollte man sich fragen was in Helfern vor sich geht, die solche Bilder im Kopf haben. Diese Geschichte trifft es hervorragend und ich komme selbst an die Grenzen des Vorstellungsvermögens. Ob in einer Fiktion oder im wahren Leben sollte man genau vor diesen Bildern Angst haben und alles daran setzen, diese nicht in den Kopf zu bekommen. Mein tiefstes Mitleid haben flüchtende Kinder aus Kriegsgebieten. Auch wenn wir sie nicht alle retten können, so sollten wir doch unseren Beitrag auch im Kleinen leisten. Hier wurde genügend Trauerarbeit geleistet aber sie ging bis zum eigenen Tod. Danke für dieses Beitrag, der mir wieder die wichtigen Dinge in den Kopf gerufen hat.

    1. tuku

      Danke für den emotionalen Kommentar, Tom!

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