Am 1. Juli 1959 fand in der staatlichen psychiatrischen Klinik Ypsilanti, einer Kleinstadt mit annähernd 20.000 Einwohnern, gelegen im US-Bundesstaat Michigan, ein denkwürdiges Treffen statt:
Drei Patienten, die sich für Jesus Christus hielten, sahen einander zum ersten Mal. Die drei psychisch Kranken sollten Protagonisten eines bizarren Experiments werden, geleitet von Dr. Milton Rokeach, einem Professor für Sozialpsychologie an der Michigan State University.
Eine Problemstellung, die Rokeach seit geraumer Zeit beschäftigte, lautete in etwa so:
Wenn ich ganz genau weiß, wer ich bin (oder mir in meiner Krankheit bloß sicher zu sein glaube z.B. Christoph Kolumbus zu sein) und plötzlich tritt mir ein anderer Mensch gegenüber, der vorgibt, ich zu sein, wie werde ich reagieren? Müsste eine bloß eingebildete Identität unter dem Zusammenprall der beiden für wirklich gehaltenen ‚Realitäten‘ nicht zerbrechen und könnte die Krankheit nicht dadurch sogar geheilt werden?
Diese bohrenden Fragen, die nach Antworten suchten, ließen Milton Rokeach keine Ruhe und so suchte er nach geeigneten Probanden für ein Experiment. In der Klinik Ypsilanti fand er zwei Patienten, die sich für Jesus Christus hielten, doch Rokeach ließ – um die verwirrenden Konstellationen auf die Spitze zu treiben – kurzerhand einen weiteren Christus aus einer anderen Klinik nach Ypsilanti verlegen. Das Experiment konnte beginnen.
Am 1. Juli 1959 trafen die drei im Besucherzimmer der Abteilung D-23 aufeinander.
Rokeach stellte sich und seine Assistenten zunächst vor und teilte den Patienten mit, dass sie in den nächsten Monaten viel Zeit miteinander verbringen würden. Und dann kam das Verwirrspiel in Gang, denn nun ergriffen die drei Kranken das Wort:
„Ich heiße Joseph Cassel“, sagte einer der drei, ein 58jährige Patient, „und ich bin Gott.“
Nur wenig später meinte auch Clyde Benson, 70 Jahre alt und an Demenz leidend: ‚Ich wurde Gott‘.
Zuletzt verlautbarte der Dritte im Bunde, der 38jährige Leon Gabor: „Ich bin der wiedergeborene Jesus von Nazareth. So steht es in meiner Geburtsurkunde.“
Wie würden die drei Männer auf die Tatsache reagieren, dass hier plötzlich drei Christusse im Raum standen – denn für sie waren Gott und Jesus eins.
Rokeach ließ es nicht bei Gesprächsrunden bewenden, in denen die Männer immer wieder aufeinandertrafen und die anderen des Betrugs bezichtigten. Vielmehr legte er die drei in dasselbe Zimmer. Zwei Jahre lang verbrachten die drei Kranken nun auf engstem Raum, aßen gemeinsam, arbeiteten in der Wäscherei, ohne Möglichkeit einander aus dem Weg gehen zu können, immer mit dem Spiegel der eigenen erdachten und verinnerlichten Persönlichkeit konfrontiert.
Erstaunlicherweise fanden die drei schon nach kurzer Zeit überaus stimmige Erklärungen für die rätselhaften Vorgänge:
Joseph Cassell war der Ansicht, dass die anderen beiden gar nicht am Leben, gar keine echten Menschen seien, sondern durch Maschinen ersetzt worden waren.
Clyde Benson wiederum ging davon aus, dass die anderen beiden ihn aus Prestigegründen ausstechen und sich selbst in den Vordergrund spielen wollten.
Die verblüffendste Lösung hatte aber eindeutig Leon Gabor parat: Die anderen könnten unmöglich Jesus sein, da sie ja Insassen einer psychiatrischen Anstalt seien. Er jedoch habe einen Beweis, dass er der wiederauferstandene Christus sei und zeigte seine Visitenkarte, auf der stand „Dr. Domino dominorum et Rex rexarum, Simplis Christianus Puer Mentalis Doktor, reincarnation of Jesus Christ of Nazareth“.
Dem konnte wohl kaum widersprochen werden.
In den folgenden Therapiegesprächen kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen, da sich die drei Söhne Gottes bei manchen Themen nicht einig werden konnten. Gabor war sich sicher, dass der erste Mensch, Adam, schwarze Hautfarbe gehabt haben musste. Clyde Benson widersprach auf das Heftigste und begann auf Gabor einzuschlagen. Nach der Attacke war Leon Gabor offenbar nicht mehr ganz sicher, dass Adam von dunkler Hautfarbe gewesen sei.
Doch weiterhin bestanden alle drei darauf, Jesus Christus zu sein.
Langsam, nach weiteren Gesprächsrunden, trat das Thema der eigenen Identität in den Hintergrund, die drei unterhielten sich auch über Filme und Politik.
Als Gabor eines Tages eine neue Visitenkarte auf den Tisch legte, meinte Rokeach, dass damit wohl ein erster Durchbruch in der Therapie erfolgt sei. Auf der Visitenkarte stand „Dr. Righteous Idealed Dung Sir Simplis Christianus Puer Mentalis Doktor“ und er bestand darauf, von nun an mit Dr. Dung angesprochen zu werden. In weiteren Gesprächen wurde aber deutlich, dass Leon Gabor ganz einfach seine Ruhe haben und mit diesem Schritt allen Diskussionen um ihn, den Sohn Gottes, aus dem Weg gehen wollte.
Monate vergingen, und der anfangs euphorisch gestimmte Dr. Rokeach musste sich eingestehen, dass sein Experiment letztendlich wohl gescheitert war. In einem letzten verzweifelten Anlauf versuchte er, Cassell, Benson und Gabor von ihrem Irrglauben zu befreien, indem er die Außenwelt für einen kurzen Augenblick ins Innere der Anstalt vordringen ließ: Er las ihnen einen Artikel aus der Lokalpresse vor, der sich mit ihrem Fall befasste.
Doch damit löste er das Problem nicht. Die drei hörten zwar den Bericht, doch stellten keinerlei Bezug zu sich selbst her, sondern meinten, dass die drei Herren, über die hier erzählt wurde, wohl dringend in eine Anstalt eingewiesen werden müssten, da sie offensichtlich verrückt seien.
Zwei Jahre lang gelang es Rokeach nicht, seine drei Patienten von ihren Wahnvorstellungen abzubringen. Am 15. August 1961 trafen sich Cassell, Benson und Gabor Mal ein letztes Mal, danach brach Rokeach das Experiment ab.
Die drei Christusse verbrachten den Rest ihres Lebens in psychiatrischen Anstalten und galten als unheilbar.
Behandelt wurden sie auch weiterhin, wenn auch nicht von Dr. Milton Rokeach.
Jahre später hielt Milton Rokeach folgendes fest:
…while I had failed to cure the three Christs of their delusions, they had succeeded in curing me of mine–of my God-like delusion that I could change them by omnipotently and omnisciently arranging and rearranging their daily lives within the framework of a „total institution.“ […] I came to realize–dimly at the time but increasingly more clearly as the years passed–that I really had no right, even in the name of science, to play God and interfere around-the-clock with their daily lives.
Seine späte Einsicht, dass er selbst wie Gott gehandelt, die drei Menschen wie Spielfiguren nach seinem eigenen Willen arrangiert und ihr tägliches Leben damit auf den Kopf gestellt hatte. Und dazu, so Rokeach, habe niemand das Recht – auch nicht im Namen der Wissenschaft.
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Foto Ypsilanti State Hospital: Jeffrey R. Stroup